Auch in diesem Jahr widmen wir wieder einen Teil unseres Tee Journals dem Thema Entrepreneurship. Im Folgenden ein Interview mit dem Friedensnobelpreisträger Prof. Dr. Muhammad Yunus. Prof. Dr. Muhammad Yunus im Interview
Am Rande des ersten Vision Summit am 3. Juni 2007 in Berlin interviewte Prof. Günter Faltin den Friedensnobelpreisträger Prof. Dr. Muhammad Yunus. Der Ökonomie- Professor aus Bangladesch ist seit Gründung Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Entrepreneurship.
Faltin: Als ich hörte, dass Sie den Nobelpreis bekommen, war ich hocherfreut – aber ich muss gestehen, dass ich auch ein wenig besorgt war.
Yunus: Wieso denn das?
Faltin: Weil Sie im Advisory Board meiner Stiftung sind und ich dachte, dass Sie jetzt keine Zeit mehr für uns haben.
Yunus: Ich gebe Ihnen gerne so viel meiner Zeit, wie ich kann.
Faltin: Prof. Yunus, in Bangladesch braucht man nur wenig Kapital um Unternehmer zu werden. Hier in der westlichen Welt glaubt man, dass sehr viel Kapital dafür benötigtwird. Können Sie uns einen Rat geben, wie wir mit viel weniger Kapital auskommen?
Yunus: Ja. Die Menschen hier denken nicht daran, einen Kredit aufzunehmen und selbst Business zu machen. Sie denken immer nur daran, in einem Unternehmen zu arbeiten [...]. Ihr Verständnis von Business ist sehr weit entfernt von dem unseren. Unserem Verständnis nach müssen wir dem Einzelnen, z.B. einer Frau, helfen, einen Kredit aufzunehmen, um ihr damit zu Subsistenz zu verhelfen. Wenn sie z.B. ein Huhn kauft, es füttert und seine Eier verkauft, verdient sie Geld und kann auf diese Weise sich selbst versorgen. Sie könnte genauso gut eine Kuh anschaffen und die Milch verkaufen. Um ihr Leben zu verbessern, brauchen die meisten armen Menschen in Bangladesch lediglich 100 oder 200 Dollar. Ein solcher Kredit wäre in Deutschland zu klein, um sich selbständig machen zu können. Wenn man beispielsweise ein Modedesigner ist, braucht man Geld, um das Material zu kaufen, seine eigenen Kleider herzustellen, ein Business hochzuziehen und seine Produkte zu verkaufen. Aber selbst dafür braucht man nicht besonders viel Kapital. [...]
Faltin: Wenn dem so ist, könnte ja praktisch jeder sich selbständig machen [...]
Yunus: Absolut. Allerdings ist es beinahe unmöglich, einen Kredit von nur 1000 Euro von einer Bank zu bekommen. Niemand gewährt einen solchen kleinen Kredit. Und dazu kämen noch die Gebühren. In den U.S.A. wird auf alles Gebühren erhoben! An diesem Punkt kommt mein Mikrokredit ins Spiel, der hilft, die Situation zu ändern und der die benötigten Dollars zur Verfügung stellt, die man braucht. Im Kontext der U.S.A. oder Deutschlands ist so ein Betrag lächerlich gering [...].
Faltin: Wir glauben hier bei uns, dass die Qualität einer Idee, nennen wir es das Business Konzept, den Ausschlag gibt, ob man im Markt erfolgreich ist. Ihre Hühnerzüchter würden bei uns wahrscheinlich Bankrott gehen. Würden Sie nicht auch sagen, dass die Menschen bei uns ein richtiges Konzept brauchen, um erfolgreich zu sein?
Yunus: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. In Bangladesch geht es um Hühner oder Kühe, in Deutschland sind die Umstände anders. Hier geht es mehr darum, etwas zu entwerfen oder Dienstleistungen anzubieten. [...] Jeder, der das Talent dafür hat, aber keinen Job, kann diese Art von Arbeit tun. Sie können auch Dinge wie IT-Dienstleistungen oder Buchhaltung machen. Es gibt eine Menge, was man auch in Deutschland tun kann. An jedem Ort gibt es Möglichkeiten, unternehmerisch tätig zu werden.
Faltin: Sie sagen also, dass das Modell in beiden Kulturen anwendbar ist...
Yunus: Natürlich. Es funktioniert beispielsweise in fast jeder Stadt Frankreichs. Auch in Norwegen und Großbritannien gibt es Mikrokredit-Programme. Sie sind vergleichbar mit den Programmen in Bangladesch, jedoch den Umständen entsprechend angepasst. Für Deutschland könnten die Programme als Vorbild dienen.
Faltin: Als Ökonomen wissen wir, dass die Ursache ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung darin liegt, dass nur Wenige unternehmerisch tätig werden. Da fängt das Problem an. Diejenigen, die Unternehmer werden, können Kapital anhäufen, was die anderen nicht können. Der entscheidende Punkt, die Ungleichheit in der Gesellschaft zu ändern, liegt in einer höheren Beteiligung der Menschen an Entrepreneurship...
Yunus: Ganz genau. Mein Eindruck ist, dass alle Menschen geborene Unternehmer sind. Jeder hat die Anlagen dazu. Aber die Gesellschaft ermöglicht es nicht, diese Anlagen auch zu entfalten. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie diese unternehmerischen Fähigkeiten besitzen. Sie denken: „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich arbeite für jemand anderen, weil ich in mir selbst nichts Brauchbares entdecken kann“. Genau an diesem Punkt scheitert die Gesellschaft: Wir sollten die Menschen ermutigen, das Potential, das in ihnen steckt, auch wirklich auszuschöpfen. Es ist eine wundervolle Gabe, die wir haben, aber nicht wahrnehmen, und das ist der Grund, warum die Menschen sie auch nicht kennen. Auf diese Weise produzieren wir das Problem der Ungleichheit. Die Menschen sind sich ihrer selbst nicht bewusst. Wenn sie ihre Fähigkeiten wahrnehmen würden, könnten sie damit einen Beitrag zur Gesellschaft leisten.
Faltin: Dies glaubt aber niemand. Sie sagen, dass jeder die Fähigkeiten zum Unternehmer in sich hat, sogar auch jene, die nicht gut ausgebildet sind. Kann denn wirklich jeder Entrepreneur werden?
Yunus: Ja. Auch eine Bettlerin oder ein Bettler aus Bangladesch, Indien oder Afrika hat genauso viel unternehmerisches Potential in sich wie jeder andere auf dieser Welt. Sie haben nur niemals erkannt, was tatsächlich in ihnen steckt, weil sie nie ahnten, wozu sie in der Lage sind. Die Gesellschaft hat nie zugelassen, nie ermöglicht, diesen Schatz zu heben. Was unser Potential angeht, sind wir alle gleich. Manche Menschen haben ein bisschen von diesem Potential entdeckt, andere entdecken es nie.
Faltin: Welche Rolle spielt hier die Bildung? Normalerweise glauben wir, dass das Bildungssystem uns mit den notwendigen Fähigkeiten und Talenten ausstatten sollte...
Yunus: Nicht Bildung allgemein, sondern eine ganz bestimmte Art von Bildung ist wichtig. Manche Bildungs-inhalte können eine falsche Denkweise und geistige Haltung fördern. Bildung kann darauf ausgerichtet sein, für eine andere Person zu arbeiten. Dies ist keine gute Bildung, wenn wir Entrepreneurship im Auge haben. Bildung sollte stattdessen darauf zielen, den Menschen folgendes zu vermitteln: „Du hast die Fähigkeiten, Dinge selbstständig anzupacken. Aber wenn es Dir gefällt, für jemand anderen zu arbeiten, ist das auch in Ordnung.“ Bildung sollte die Menschen ermutigen, selbstständig zu denken und ihre Talente zu entdecken, statt nur den Weg für eine spätere Anstellung in einem Unternehmen zu ebnen. Man sollte nicht davon abgehalten werden herauszufinden, dass man Dinge auch völlig anders tun kann. Bildung muss offen sein, damit man sich seiner Möglichkeiten bewusst werden kann. Die Informationstechnologie ist in diesem Zusammenhang bedeutsam. Man muss seinen eigenen Weg finden können, anstatt nur den Lehrbüchern zu folgen, muss über den eigenen Tellerrand hinausgucken können. [...]
Faltin: Die Zeit ist reif dafür, dass wir viel mehr unternehmerisch tätig werden. Welchen Rat geben Sie uns? Wie sollen wir hier bei uns mit diesem Prozess beginnen?
Yunus: Der Anfang findet immer auf persönlicher Ebene statt. Hinzu kommt die Schaffung von Institutionen, Bildungsmöglichkeiten und Websites, an die sich jeder Bürger wenden kann um folgende Fragen zu stellen: „Was mache ich hier? Könnte ich dies oder jenes tun? Warum verfolge ich diese oder jene Richtung nicht etwas genauer?“ Es geht darum, Individuen dazu zu bringen, sich wie solche zu verhalten, sich selbst zu entdecken. Von allen Dingen, die wir tun können, um Unternehmer aus uns zu machen, ist dies das Beste.
Das englische Original-Interview finden Sie unter: http://labor.entrepreneurship.de/blog/